Känguru-Wache

Mitternacht. Ich wecke das Känguru. Es hat sich zum Schlafen mitten in den Salon gelegt, keiner kommt mehr vorbei. Als es aufsteht, fallen einige halbe Oreo-Kekse auf den Boden. Das Känguru isst immer nur die Hälfte mit der Creme-Füllung.
Ich reiche dem Känguru seine Schwimmweste, es hüpft an Deck. „Wie lange noch?“ fragt es entnervt nach fünf Minuten und stellt sich direkt vor den Rudergänger Tim. „Setz dich bitte hin, ich kann die Instrumente nicht sehen!“ sagt Tim zum Känguru. Das Känguru rührt sich nicht und starrt konzentriert auf die Anzeige, sein Schwanz verklemmt sich im Steuerrad. „Du bist 10 Grad neben dem Kurs, Landratte!“ brüllt das Känguru „mehr nach Steuerbord!“ – das war falsch, die Kurskorrektur bewirkt eine Halse. Das Känguru hüpft über den Baum. Es knallt. Alle sind wach.
„Check!“ ruft das Känguru, knipst seine Stirnlampe an, holt aus seinem Beutel den Wachführerlaufzettel, setzt den Haken bei „Halse“ und drückt mir den Stift in die Hand.
„Lass mich steuern!“ ruft das Känguru und knufft Tim beiseite. Es fährt viel zu tief, die Genua fällt ein und flattert. „Die Genua flattert!“ sage ich. „Waaas?“ brüllt das Känguru. „Die Genua flattert!“- „Waaaas?“ – „Die Genua ..“ – „Ich verstehe dich nicht, die Genua flattert!“
Ich trete neben das Känguru und ermahne es eindringlich, konzentrierter zu steuern. Das Känguru nickt und reißt nun wie wild das Rad hin und her, sodass der Peter Schlangenlinien fährt. „Kopf hoch, Leute! Wir halsen!“ Jedes Mal, wenn im Mittelcockpit jemand aufsteht, brüllt das Känguru „Rund achtern!“ und halst Zehntelsekunden später.
Plötzlich schießt das Schiff in den Wind. Ich drehe mich zum Känguru, um es zu ermahnen, aber es steht nicht mehr am Ruder. Die Klappe mit den Rettungsinseln ist geöffnet, eine Insel fehlt. Sie treibt 20 Meter hinter dem Schiff – das Känguru hat sie zur Hüpfburg umfunktioniert. „Guck mal, was ich kann!“ ruft das Känguru, zieht die Winschkurbeln aus seinem Beutel und fängt an damit zu jonglieren. Was natürlich nicht gelingt. Die Winschkurbeln fallen herunter, die meisten ins Wasser, die letzte schlägt das Känguru KO. Wir ziehen die Insel mit dem Känguru längsseits. Katha beginnt mit der Reanimation. Als es wieder zu sich kommt, verschwindet es wortlos unter Deck, geht zum Sweetie-Schapp und nimmt sich eine Rolle Oreo-Kekse heraus, die es mit Rum übergießt und in den Mund stopft. Kauend murmelt es (it murmurs): „Wie soll ich das nur aushalten ohne Schnapspralinen?“
Es wankt ins Achtercockpit. „Brrrrrrr.“ – „Brrrrrr.“ – aus Langeweile beginnt das Känguru, die freie Backstagwinsch im Leerlauf mit der Hand zu drehen. „Lass das, so kann keiner schlafen!“
Wir müssen wenden. Ich schicke das Känguru an die Genuaschot. Es zieht sich seine Boxhandschuhe an, wodurch es die Genuaschot nicht mehr bedienen kann und zuckt entschuldigend die Schultern. „Blödes Beuteltier, zieh deine dicken Handschuhe aus!“ ruft Michi. Das Känguru zieht einen Handschuh aus, greift nach der Auslöseleine von Michis Weste, die sich daraufhin mit einem *pfff* öffnet und zieht den Handschuh wieder an. Dann eben ohne Känguru.
Doch auch die schlimmste Känguru-Wache hat ein Ende. Die neue Wache erscheint im Niedergang. Freudig hüpft das Känguru unter Deck.
„Warte kurz“, sagt das Känguru und verschwindet in der Navi. Ich höre, wie es auf dem GPS rumdrückt. „Was soll das denn?“ frage ich. „Habe den nächsten Wegpunkt 40 Meilen nach Süden verschoben. Das ist zwar nicht direkt unser Kurs, aber das Schiff liegt dann ruhiger und so schlafe ich besser. Gute Nacht.“
Als die Sonne aufgeht, erkenne ich, dass unter der Steuerbordsaling die australische Gastlandsflagge gesetzt ist. Was für eine Nacht…

Fußnote: Wer jetzt gar nicht weiß, worum es geht, sollte sich das Känguru-Manifest von Marc-Uwe Kling durchlesen… oder vorlesen lassen.

8 Gedanken zu „Känguru-Wache

  1. Hahahaha: das ist ja wirklich außerordentlich großartig. Sieht so aus, als würden die Känguru-Chroniken immer noch zur Abendgestaltung auf dem Peter gehören. Das find ich schön.
    1000 Grüße!

    Hoffentlich lesen sie das bei Oreo und fangen endlich mal an, die mit nur einer Kekshälfte zu verkaufen.

  2. Hammergeil! Voll den Ton getroffen! Super 🙂 danke für die Gute-Nacht-Geschichte!

  3. Großartig! Was wohl Herr Krapotke dazu gesagt hätte… die alte Landratte!

  4. Echt klasse. Dabei fällt mir ein schönes Zitat ein:

    „Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer.“ -Dschingis Khan-

  5. Supergenial! Mit einem Schmunzeln im Gesicht erinnere ich mich an viele lustige Vorlesestunden auf dem Peter und eine tolle Zeit mit Euch! Herzliche Grüße an alle aus dem immer noch sehr winterlichen Hamburg.

  6. Pingback: Dominikanische Republik | moni bloggt

Kommentare sind geschlossen.