Morgendämmerung

Nach dem Frühstück, meine Freiwache hat soeben begonnen, äußere ich laut die Frage, was tun mit dem angebrochenem Morgen. Sogleich prasselt eine Salve von Vorschlägen auf mich ein. Der letzte kommt von Ole: „Einen Blog-Eintrag schreiben“.

Doch womit füllt man den Artikel? Alle äußeren Ereignisse auf dem Törn – gefangene, fast gefangene und nicht gefangene Fische – sind im Blog längst beschrieben. Beim Meditieren über die Frage stelle ich fest, dass es dieselbe ist, die in anderer Form immer wieder (verständnislos) von Freunden, Bekannten und Verwandten gestellt wird: Wie kann man drei Wochen des wertvollen Urlaubs auf dem Atlantik auf einem 55 Fuß Schiff verbringen, ohne irgendetwas anderes zu sehen als Wasser, Wasser, Wasser und immer wieder die gleichen elf Gesichter? Ich versuche diese Frage mit der Schilderung der ersten zweieinhalb Stunden des noch jungfräulichen Tages zu beantworten.

Um halb vier Uhr Bordzeit weckt mich das „reise, reise“ zu meiner Wache. Eigentlich ist es noch viel früher. Wir befinden uns auf ca. 53° westlicher Länge, nach Zonenzeit ist es also erst halb zwei Uhr, tiefste und vor allem pechschwarze Nacht. Keine gute Zeit zum Aufstehen! Halb verschlafen beginnt das Anziehen. Der Peter liegt ordentlich auf dem Ohr, das Vorschiff verstärkt das Rollen und Stampfen des Schiffes noch einmal. Man muß sich sorgfältig festkeilen, um beim Anziehen nicht über Stag zu gehen. Ein Bein in die zugehörige Öffnung der Hose zu stecken, das bedarf im heimatlichen Schlafzimmer keiner besonderen Planung. Im Vorschiff des in der Welle arbeitenden Peters ist das anders. Das betreffende Bein und eine Hand, um die Hose entsprechend zu positionieren, stehen für das Festhalten nicht zur Verfügung. Verbleiben noch eine weitere Hand und ein Bein zum Abstützen. Das ist zu wenig. Alle sonstigen noch freien Körperteile müssen überlegt eingesetzt werden. Andernfalls würde man bei einem plötzlichen Überholen wie eine Kanonenkugel durch das Schiffsinnere schießen. Grob geschätzt müssen ungefähr 10 Ärmel und 8 Hosenbeine gefüllt werden bis man seefertig ist, dazu kommen Socken und Seestiefel. Das Anziehen ist also richtig Arbeit und 20 Minuten Zeitaufwand sind dafür eher knapp geplant.

Das sind die Mühseligkeiten des Segelns. Jetzt kommen die Freuden. Kaum an Deck angekommen, umfängt mich der Zauber der Atlantiknacht. Wir haben 20 bis 25 Knoten Wind. Der Peter schießt mit halbem Wind unter Genua 3 und einmal gerefftem Groß mit 8 – 9 Knoten durch die dunkle Nacht. Bug- und Heckwelle rasen mit großer Geschwindigkeit am Schiff vorbei, das Meeresleuchten sorgt für ein ständiges Glitzern und Funkeln des Schaums. Dazu das Bewusstsein der Einsamkeit, unter 500 sm Entfernung in jede Richtung gibt es kein Land.

Später, mittlerweile stehe ich am Ruder, zeigen sich die ersten Vorzeichen des nahenden Morgens. Langsam heben sich voraus vom eintönig dunklem Himmel schwarze Wolken ab. Hinter ihnen beginnt sich das Firmament zu erhellen. Einige Flecken hellblauen Himmels füllen den Raum zwischen den Wolken aus. Langsam färben sie sich rötlich-golden. Eine Ahnung des ewigen Laufs der Zeiten macht sich breit. Dazu das monotone Rauschen von Welle und Wind. Segelschiffsromantik pur.

Um 6:00 Uhr, die Sonne ist noch nicht aufgegangen, wird meine Wache abgelöst. Ich bedauere die Ablösung schon fast, denn den eigentlichen Sonnenaufgang werde ich nun unter Deck beim Frühstück oder in der Koje verpassen.

Ottfried für die PvD-Crew